Autounfall14.03.2022

Wer auffährt, hat Schuld: Haftet wirklich immer der auffahrende Autofahrer für einen Auffahrunfall?Zur Haftungsfrage bei einem Auffahrunfall

Auf Deutschlands Straßen kommt es jeden Tag zu Unfällen. Viele davon sind sogenannte Auffahrunfälle. Dabei fährt ein von hinten kommender Autofahrer einem vorausfahrenden Autofahrer hinten auf. Bei dieser Art von Unfällen ist der vermeintlich Schuldige schnell ausgemacht, nämlich der Auffahrende. Doch ist dieser tatsächlich immer Schuld an dem Auffahrunfall?

Bei einem Autounfall haftet derjenige, der den Unfall verschuldet hat. Gemäß § 17 Absatz 1 StVG (Straßenverkehrsgesetz) bemessen sich die Schadenersatzansprüche der Fahrzeughalter insbesondere danach, „inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist“. Das kann, muss aber nicht der auffahrende Fahrer sein. Auch beim Auffahrunfall kann der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs den Unfall verursacht haben. Dies hängt dies von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.

Grundsätzlich ist es so, dass die Schuld eines Beteiligten an dem Unfall nachgewiesen werden muss. Lässt sich nicht nachweisen, dass einer der Autofahrer den Unfall überwiegend verursacht hat, so haften beide Autofahrer bzw. Halter der in den Unfall verwickelten Fahrzeuge aufgrund der bei Kraftfahrzeugen bestehenden Gefährdungshaftung zu gleichen Teilen.

Anscheinsbeweis spricht für Verschulden des auffahrenden Autofahrers

Bei einem Auffahrunfall geht die Rechtsprechung jedoch bei normalem Verlauf der Dinge davon aus, dass der Auffahrende den Unfall verursacht hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs spricht die Lebenserfahrung und somit ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden. Es kann nämlich bei Auffahrunfällen angenommen werden, dass der auffahrende Autofahrer „den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht gehalten hat“ oder zu schnell oder unaufmerksam gefahren ist (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 13. 12. 2016, Az. VI ZR 32/16; Kammergericht Berlin, Hinweisbeschluss vom 20.11.2013, Az. 22 U 72/13 und Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 31.01.1972, Az. 13 U 140/71).

Anscheinsbeweis gilt nicht immer

Dieser Anscheinsbeweis, wonach der Auffahrende den Unfall verursacht hat, gilt jedoch nicht immer, sondern nur, wenn es sich um einen typischen Auffahrunfall handelt. Dem Bundesgerichtshof zufolge reicht der Auffahrunfall als solcher als Grundlage eines Anscheinsbeweises dann nicht aus, „wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die – wie etwa ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs – als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen“ (Bundesgerichtshof, Urteil vom 13. 12. 2016, Az. VI ZR 32/16).

  • Nicht jeder Auffahrunfall ist typisch – bei Kettenunfällen oder wenn der Vorausfahrende vorher die Fahrspur gewechselt hat, gilt die Vermutung nicht.

Wann hat Auffahrender keine alleinige Schuld an Unfall?

Wird etwa der Auffahrende selbst von hinten angefahren, so dass sich sein Fahrzeug auf das vorausfahrende Fahrzeug aufschiebt, trifft ihn kein Verschulden an dem Unfall (Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 28.03.2012, Az. 14 U 156/11). Ebenso verhält es sich, wenn der Vorausfahrende kurz vor dem Auffahrunfall die Spur wechselte. In diesem Fall spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Auffahrunfall aufgrund eines sorgfaltswidrigen Fahrspurwechsels passierte (Amtsgericht München, Urteil vom 01.10.2013, Az. 331 C 28375/12).

Der zunächst für das Verschulden des Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis kann demnach durch Vortrag eines abweichenden Sachverhalts, d.h. eines untypischen Unfallgeschehens erschüttert werden. Der Auffahrende, dessen Haftung zunächst aufgrund des Beweises des ersten Anscheins für die Verursachung des Auffahrunfalls angenommen wird, kann diesen Anschein durch Darlegung und Nachweis eines atypischen Unfallgeschehens, wonach der vorausfahrende Fahrer den Unfall verursacht hat, erschüttern.

Auffahrender muss atypischen Unfallhergang bei Auffahrunfall beweisen

Daraus ergibt sich eine wichtige Beweislastverteilung. Im Schadenersatzprozess zwischen den Unfallbeteiligten spricht zunächst der Anscheinsbeweis für die Schuld des Auffahrenden an dem Unfall, so dass dieser bzw. der Fahrzeughalter die Unfallschäden der durch den Unfall geschädigten Beteiligten zu erstatten hat. Will der Auffahrende diese Haftung abwenden, so muss er vortragen und beweisen, dass der vorausfahrende Autofahrer den Unfall verursacht hat.

Die alleinige Haftung des Auffahrenden kann ferner ausgeschlossen sein, wenn der Unfall „durch ein unabwendbares Ereignis“ verursacht wurde, „das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Kraftfahrzeugs noch auf einem Versagen seiner Vorrichtungen beruht“, § 17 Absatz 3 Satz 1 StGB.

Mitschuld des vorausfahrenden Autofahrers

So kommt u.a. in folgenden Fällen ein Mitverschulden des vorausfahrenden Autofahrers in Betracht: Den Auffahrenden trifft zum Beispiel dann nicht die alleinige Schuld für einen Auffahrunfall, wenn der vorausfahrende Autofahrer sorgfaltswidrig nach links abbiegen wollte und daher eine unklare und somit gefährliche Verkehrslage geschaffen hatte (Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 01.10.1999, Az. 19 U 34/99). Der Vorausfahrende kann auch dann eine Mit- oder sogar Vollschuld an einem Auffahrunfall haben, wenn er sein Fahrzeug plötzlich und unerlaubt abbremst (vgl. Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 02.03.2006, Az. 3 U 220/05).

In welchen Fällen ein Autofahrer sein Fahrzeug unerwartet abbremsen darf, siehe folgende Rechtsfrage: Abbremsen für Tiere: Darf man als Autofahrer für Katze, Fuchs, Hase, Taube oder Wildente auf der Straße bremsen?.

Diese Rechtsfrage wurde aktualisiert. Antworten auf aktuelle Rechtsfragen finden Sie bei www.refrago.de (REchtsFRAGenOnline).

Quelle:refrago/we
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